Porträt von Selmin Çaliskan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland – von Caroline Ausserer
Ungezwungen und sprühend vor guter Laune empfängt uns Selmin Çaliskan, die neue Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, im Berliner Büro der Menschenrechtsorganisation. „Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen“, prangt der AI-Slogan mit schwarzen Lettern auf weßem Grund gleich am Eingang. Der lange, weiße Flur zu Çaliskans Büro ist gesäumt mit Plakaten diverser Amnesty-Kampagnen: Es geht um Flüchtlingsschutz, um Frauenrechte, um das Recht auf Bildung, gegen Zwangsräumungen, um Regeln für den Waffenhandel und um das Recht auf Meinungsfreiheit.
Bei Amnesty zu arbeiten, bedeutet auch anzuecken. Und das macht sie: „Ich bin eine Aneckerin“, sagt Çaliskan. „Nur wenn ich anecke, fühle ich mich wohl.“ Nur dann spüre sie sich selber und wisse, wer sie sei. Ihre Klarheit bezwingt.
Viel wird über die neue „Spitzenfrau bei Amnesty“ in den Medien berichtet: erstmals wird eine Deutschtürkin Generalsekretärin, sie hat im März das Amt von Wolfgang Grenz übernommen, der in den Ruhestand geht. Ihre beruflichen Erfahrungen werden gelobt, sie reichen von Flüchtlingsberatung, über Arbeit mit Frauenrechtsorganisationen in Afghanistan bis zur Lobbyarbeit in Brüssel. Neben Deutschtürkin, Lobbyistin oder Öffentlichkeitsarbeiterin sieht sie sich selbst jedoch am ehesten als Menschenrechts-aktivistin. „Ich bin sehr impulsiv, rebellisch und charmant“, beschreibt sie sich mit ruhiger, weicher Stimme.
Ihr Vater wurde in den 1960er Jahren aus der Türkei angeworben und kam mit seiner Frau und „einem Fordvertrag in der Tasche“ nach Deutschland. Es habe immer geheißen, es gehe bald wieder in die Türkei zurück, erzählt Çaliskan. „Nächstes Jahr, nächstes Jahr, damit sind wir aufgewachsen.“ Groß geworden als Älteste von drei Töchtern in einem konservativen Elternhaus in Nordrhein-Westfalen, ist sie den Erwartungen der deutschen und der türkischen Gesellschaft ausgesetzt. „Es war ein zu enges Korsett und wir hatten wegen unterschiedlicher Werte Generationskonflikte.“ Dies führt dazu, dass sie mit 16 Jahren von zuhause wegläuft, in eine Hausgemeinschaft zieht und seitdem auf eigenen Füßen steht. Dennoch wenden sich ihre Eltern nicht von ihr ab. „Das rechne ich ihnen hoch an“, sagt sie heute. Mit kleinen Jobs hält sie sich über Wasser, geht weiter in die Schule. Nach dem Fachabitur wird sie schwanger. „Das war schon ein starker Schritt. Doch er hat mich davor bewahrt, mich selbst zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen.“
Sie zieht nach Bonn, absolviert dort ein Praktikum bei der Frauenbildungswerkstatt des Vereins „Frauen lernen gemeinsam“ und kommt zum ersten Mal mit Lesben und lesbischen Lebensentwürfen in Berührung. „Das war zunächst etwas befremdlich, aber dann schnell sehr normal.“ Da die Frauen bei den Bildungsangeboten ihre Töchter mitnehmen, diese aber keine Lust haben mit ihren Müttern an einem Tisch zu sitzen, kommt die Idee auf, einen Mädchentreff zu gründen. „Wir nannten ihn ‘Mädchenräume für Mädchenträume’ und er sollte einen Kontrapunkt bilden zum koedukativen Konzept, bei dem Mädchen in gemischten Jugendtreffs oft im Hintertreffen sind.“ Es gibt auch eine lesbische Mädchengruppe, sowie eine türkisch-kurdische Gruppe, die Çaliskan als Sozialarbeiterin anleitet. Dort beginnt ihre politische Arbeit mit der Beratung von Migrantinnen. Heute arbeitet ihre mittlerweile erwachsene Tochter in eben diesem interkulturellen feministischen Mädchentreff.
Neben der Arbeit schließt Çaliskan ein Studium als Übersetzerin ab, will aber nie als solche arbeiten. „Es war mir wichtig, meine politisch-soziale Arbeit auf der internationalen Ebene fortzusetzen.“ Ihre frühe Politisierung führt sie auf ihr Empfinden als Kind in einer türkischen Familie, die in Deutschland lebt, zurück. „Ich habe immer gespürt, dass wir Außenseiter sind“, sagt sie nachdenklich. Und fügt hinzu: “Ich war aber doppelt Außenseiter, in der Gesellschaft und in meiner Familie. Weil ich immer meine Meinung gesagt habe.“ Diese Erfahrung als Außenseiterin scheint sie so geprägt zu haben, dass sich der Kampf für Minderheiten wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht.
„Ich habe mich immer sehr für Frauenrechte eingesetzt“, erzählt sie. Unabhängige, selbständige und starke Frauen sind auch ihre Vorbilder. Dazu gehöre ihre Mutter, die ihren Töchtern eingeschärft habe, wie wichtig finanzielle Unabhängigkeit sei. Und ihre Kusine Hanifel in der Türkei, die sie ebenso ob ihrer Unangepasstheit bewundere. Als Feministin bezeichne sie sich dennoch nicht, eher als Frauenrechtlerin. Am Feminismus als Konzept kritisiert sie dessen Orientierung an der Mittelschicht. „Trotzdem erkenne ich die Bedeutung von feministischen Vorreiterinnen an, die auf einer theoretischen Ebene Denkanstöße geben und jene Macht für Frauen einfordern, die ihnen zusteht“, betont Çaliskan.
Ihr Einsatz für Frauenrechte zeigt sich auch in ihrer Arbeit bei Medica Mondiale von 2003 bis 2010, bei der es darum geht, traumatisierte Mädchen und Frauen in Kriegs- und Krisengebieten zu unterstützen. Dafür ist sie regelmäßig in Liberia, dem Kongo und Afghanistan, berät die Frauen und gibt Fortbildungen in politischer Einflussnahme und ziviler Konfliktbearbeitung. Sie kämpft dafür, Frauen in Friedensverhandlungen mit einzubeziehen und verhandelt mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren. Ihre „Sensibilität für Menschen“ ist dafür sehr nützlich, aber auch ihre Identität als „Weltbürgerin ohne Schubladendenken“. Das Ziel, das Projekt lokalen afghanischen Frauengruppen zu übergeben, ist geglückt. „Darauf bin ich stolz.“
Ihre letzte Station vor Amnesty International ist die European Women’s Lobby in Brüssel. Bei diesem Dachverband europäischer Frauenorganisationen baut Selmin Çaliskan das erste europäische Migrantinnennetzwerk mit auf. Dort betreut sie außerdem die Flüchtlingsarbeit und setzt sich dafür ein, dass Geschlechtergesichtspunkte in die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik aufgenommen werden. „Behörden arbeiten immer noch mit sehr unsensiblen Fragemethoden bei oft traumatisierten Asylsuchenden“, kritisiert sie, insbesondere wenn es um Frauen oder um LSBTI-Asylbewerber/innen gehe. Daher seien Trainings für die zuständigen Behörden wichtig – wie der neuen EU-Flüchtlingsagentur EASO in Malta. „Auch Deutschland darf in der Flüchtlingspolitik die eigene Verantwortung nicht an die EU-Außengrenzen verlagern“, fordert die Menschenrechtsaktivistin und seufzt: „Es ist noch ein weiter Weg.“
Neben ihrem Einsatz für die Rechte für Frauen, Migrant/innen und Flüchtlinge, macht sich Çaliskan auch für andere Minderheiten stark. Dazu gehören für sie vor allem Lesben, Schwule, Transgender und Intersexuelle. „Das sind für mich wichtige Personengruppen, die oft an vorderster Front stehen, beispielsweise jetzt auch bei den Protesten im Gezi Park“, berichtet sie von ihrem letzten Solidaritätsbesuch in der Türkei. „Da schlägt mein Herz für.“ Insbesondere die Situation von Trans-Menschen in der Türkei sei bedrückend, mit zahlreichen Morden und einem Leben unter unwürdigen Bedingungen. „Die Transgender haben nichts zu verlieren, die stellen sich in die erste Reihe.“ Umso mehr habe sie sich über den gewaltlosen vierten Trans-Pride-Marsch Ende Juni in Istanbul gefreut.
Die Protestbewegung in der Türkei sieht sie positiv. „Das ist so als hätte jemand auf einen Gong geschlagen und gezeigt, dass es Menschen gibt, die anders denken als die herrschende Regierung.“ Schlimm sei jedoch, wie mit der Protestbewegung umgegangen werde: Polizeigewalt, Tränengas, Gummigeschosse. „Als könnte man damit einfach die Meinung der Leute von der Straße spülen“, kritisiert Çaliskan und kündigt einen detaillierten Bericht von Amnesty über die Menschenrechtsverletzungen rund um die Gezi-Park Proteste an.
Mit über drei Millionen Unterstützer/innen, Mitglieder und Aktivist/innen in über 150 Ländern der Welt ist Amnesty International eine der größten Menschenrechts-organisationen. Allein in Deutschland gibt es 26.000 aktive Mitglieder und rund 120.000 Unterstützer/innen. „Es ist ein großer Kosmos“, schmunzelt die neue Generalsekretärin. Dementsprechend könne sie nach den ersten Monaten im Amt noch keine Bilanz ziehen. Aber ich weiß, dass ich hier richtig bin”, sagt sie.
Caroline Ausserer (erschienen in L-MAG, September/Oktober 2013)
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