Was verbirgt sich hinter dem Konzept „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“, kurz SRGR? Welche Rolle spielen diese im internationalen Menschenrechtsdiskurs? Wo wird über sie verhandelt und wer sind die Akteur*innen? Katrin Erlingsen von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) führt im Webinar der Hirschfeld-Eddy-Stiftung in das Konzept SRGR ein.
Abtreibungsrecht, Schwangerschaft, Globaler Süden, Kinder, Verhütung, Selbstbestimmung, Freiheit — dies sind nur einige Stichworte, die den Teilnehmenden des Webinars im Zusammenhang mit dem Konzept sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (SRGR) einfallen. Die spielerische Annäherung zeigt, wie vielfältig das Thema ist. Katrin Erlingsen, Leiterin Politische Arbeit Deutschland bei der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) und Expertin für SRGR, spricht in diesem von Sarah Kohrt von der Hirschfeld-Eddy-Stiftung initiierten, organisierten und moderierten Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen zum Peking+25-Prozess über Geschichte, Definition und Status der SRGR.
Geschichte
Die Entstehung des Konzepts SRGR geht auf den Paradigmenwechsel bei der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz im Jahr 1994 zurück. Anstatt Bevölkerungsfragen wie bisher aus einer ökonomischen Metaebene zu behandeln, rückte das Individuum ins Zentrum. Die internationale Gemeinschaft einigte sich darauf, dass sich aus den universellen Menschenrechten das individuelle Recht ableitet, frei über den eigenen Körper, Partnerschaft und Familienplanung zu entscheiden. Dies wurde seitdem unter dem Begriff „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ (SRGR) zusammengefasst. Bei der Pekinger Weltfrauenkonferenz 1995 wurde das Konzept als zentrales Element für die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen bestätigt.
Definitionen
„Bei reproduktiver Gesundheit geht es um körperliches, mentales und soziales Wohlbefinden in Bezug auf das Reproduktionssystem und nicht nur um Abwesenheit von Krankheiten“, erklärt Katrin Erlingsen im Webinar. „Dazu gehört, dass Menschen in der Lage sein sollen, ein befriedigendes Sexualleben zu haben, sich fortpflanzen und frei darüber entscheiden zu dürfen.“ Außerdem habe jeder Mensch das Recht sexuell aufgeklärt zu werden und sichere Verhütungsmethoden zu verwenden. Während Schwangerschaft und Geburt sollte man gut versorgt werden. Die reproduktive Gesundheit umfasst auch die sexuelle Gesundheit, womit die Verbesserung des eigenen Lebens als auch der sozialen Beziehungen gemeint ist.
Bei den reproduktiven Rechten wiederum gehe es um das Recht frei von Diskriminierung, Zwang und Gewalt eigenverantwortlich zu entscheiden, ob wann und wie viele Kinder jemand haben will. Diese Rechte sollen die Basis für Familienplanungsprogramme bilden und zur Gleichberechtigung der Geschlechter beitragen. Jugendlichen soll Aufklärung zugänglich gemacht werden, um positiv mit ihrer Sexualität umzugehen. Beim Begriff der sexuellen Rechte konnte sich die internationale Gemeinschaft bisher nicht auf eine gemeinsame Definition einigen. Laut WHO gehört hierzu das Recht, die eigene Sexualität frei von Diskriminierung leben zu können — unabhängig von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität (SOGI).
Status
Bei den Vereinten Nationen wird in unterschiedlichen Gremien über SRGR und SOGI verhandelt und es gibt die Möglichkeit sich als Zivilgesellschaft dabei einzubringen. Dies geschieht unter anderem beim UN-Menschenrechtsrat, zum Beispiel beim UPR-Verfahren (Universal Periodic Review), bei dem Staaten sich gegenseitig zur Umsetzung der Menschenrechte bewerten. Bei der Kommission für Bevölkerung und Entwicklung (Commission on Population and Development, CPD), die darauf achtet, dass die Beschlüsse von Kairo umgesetzt werden, und in der UN-Frauenrechtskommission (Commission on the Status of Women, CSW) bringen sich starke zivilgesellschaftliche Koalitionen ein. SRGR sind auch in der 2015 neu geschaffenen Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung einbezogen,dessen Kernstück ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung ist (Sustainable Development Goals, SDGs), wobei es jedoch nicht gelungen sei, sexuelle Rechte mitaufzunehmen.
„Oft arbeiten Aktivist*innen aus dem SRGR Bereich sehr konstruktiv und strategisch mit Aktivist*innen aus dem Bereich SOGI zusammen“, berichtet Erlingsen. Sarah Kohrt ergänzt: „Es ist genau diese Art der solidarischen Zusammenarbeit, die angesichts der wachsenden Opposition so wichtig ist. Und das ist ein schönes Beispiel dafür. Rechte für LSBTI* und sexuelle und reproduktive Rechte sind eng miteinander verbunden. Auch, weil die Angriffe aus der gleichen Richtung kommen.“
Widerstand
Der Widerstand gegen sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte ist gewachsen, insbesondere seit Donald Trump an der Macht ist. „Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte sind immer noch ein umstrittenes Thema im Rahmen der UN“, weiß Erlingsen. Es entstünden ungewöhnliche Koalitionen von Ländern, wie zwischen den USA, Russland, Saudi Arabien, Jemen, Ungarn und Jamaika, die sich gemeinsam gegen Sexualaufklärung, Schwangerschaftsabbruch und diverse Familienformen einsetzen. „Die Wurzel dessen ist oft die Verteidigung des Patriarchats und der bestehenden Machteinflüsse.“ Die Gegenseite, bei der sich homo- und frauenfeindliche Kräfte verbünden, sei gut organisiert und finanziert, z.B. durch die katholische Kirche. Umso wichtiger seien starke zivilgesellschaftliche Koalitionen zur Stärkung der SRGR.
„Es ist wichtig, das UN-System zu bestärken und dafür zu sorgen, dass es weiterbesteht und nicht ausgehöhlt wird von denjenigen, die es schwächen wollen“, bekräftigt Erlingsen. „Denn nur so können wir die UN als einen Ort schützen, in dem internationale Normen weiterentwickelt werden und auf nationaler Ebene eingefordert werden können.“ Deutschland müsse weiterhin seine progressive Position in dem Bereich beibehalten, am besten kombiniert mit Selbstreflexion und einem Bewusstsein über Diskriminierungen hierzulande.
Caroline Ausserer
(veröffentlicht im LSVD-Blog, 3. Juni 2020)
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