Caroline Ausserer sprach mit Mauro Cabral über die Entwicklung, die Auswirkungen und den Einsatz der Prinzipien seitdem. Cabral, der an der Ausarbeitung der Prinzipien beteiligt war, ist Director of Programs and Advocacy bei Global Action for Trans* Equality (GATE).
Mauro Cabral, Photo: Constanza Nicolovos, all rights reserved.
Caroline Ausserer: Sie gehörten zu den Menschenrechtsexpert/innen, die im November 2006 die Yogyakarta-Prinzipien ausgearbeitet haben. Menschenrechtsverletzungen gegen Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität werden als einer der wichtigsten Gründe für die Entwicklung der Prinzipien genannt. Würden Sie uns bitte erzählen, wie es zu dieser Konferenz gekommen ist? Wie ist die Idee für diese Prinzipien entstanden?
Mauro Cabral: Die Idee war, ein Instrument zu schaffen, das den LSBT-Aktivismus in der UNO unterstützen sollte. Das Seminar fand 2006 statt, nachdem mehrere Versuche in der UNO, Resolutionen zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität einzuführen, gescheitert waren. Diese Konferenz sollte an einer Universität im globalen Süden stattfinden, um an das Prinzip der akademischen Legitimität anzuknüpfen und einen der damaligen Hauptkritikpunkte zu thematisieren – nämlich, dass LSBT ein Thema des globalen Nordens sei. Die Idee dahinter war, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität mit dem bereits bestehenden Rahmenkonzept der Menschenrechte zu verknüpfen, um zu zeigen, dass es hier eine starke normative Verbindung gibt.
In der Einführung zu den Prinzipien steht: „Dieser Versuch des Kontrollierens von Sexualität ist nach wie vor eine treibende Kraft hinter geschlechtsbezogener Gewalt (gender-based violence) und der Ungleichbehandlung der Geschlechter (gender inequality).“ Stimmen Sie dieser Aussage heute noch zu?
Auch wenn ich an der Ausarbeitung der Prinzipien teilgenommen habe – was die Demografie betrifft, waren wir nur zwei Trans*-Aktivist_innen, und ich war der_die einzige Inter*-Aktivist/in – bin ich mit den so formulierten Bestimmungen nicht unbedingt einverstanden. Zum Beispiel sprechen die Prinzipien Themen körperlicher Verfasstheit nicht explizit an, auch nicht Ausdrucksformen von Geschlecht. In dem Sinne spiegelt die Einführung einen bestimmten Stand in der Welt, aber auch in der LSBT-Bewegung, wider. Ich stimme der zitierten Aussage zu, weil der Versuch, Sexualität zu kontrollieren, meines Erachtens immer noch ein Thema ist, aber gleichzeitig steht in den Prinzipien nichts zum Kontrollieren von (intergeschlechtlichen) Körpern, ein Thema damals wie heute.
Was meinen Sie damit? Welche Herausforderungen bestehen für intergeschlechtliche Menschen in Bezug auf die Kontrolle ihrer Körperlichkeit? Welche Unterschiede bestehen im Vergleich zur Debatte über Geschlechtsidentität?
Körper werden vielfältig kontrolliert. Mit ihrem universalistischen Ansatz ignorieren die Yogyakarta-Prinzipien die meisten Arten der Kontrolle, und Rassismus, Klassismus, Altersdiskriminierung, Sexismus und Cissexismus sowie Behindertenfeindlichkeit/Ableismus haben nichts mit Menschenrechtsverletzungen aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität zu tun. Intergeschlechtliche Themen sind implizit mit medizinischem Missbrauch verknüpft, und dieser Missbrauch hat mit Geschlechtsidentität zu tun. Dieses Rahmenkonzept wurde in der Vergangenheit von der Inter*-Bewegung kritisiert, mit dem Argument, dass andere Bestimmungen nötig seien – die sich auf körperliche Vielfalt, Geschlechtsmerkmale, Varianten der geschlechtlichen Anatomie usw. beziehen – um ausreichenden Schutz vor Menschenrechtsverletzungen gegen intergeschlechtliche Menschen zu bieten. In diesem Sinne ist das SOGI-Rahmenkonzept (sexual orientation and gender identity – sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität) immer noch unerlässlich – genauso wie Geschlecht als Rahmenkonzept unerlässlich ist – um Inter*-Rechte voranzubringen, aber das genügt nicht. Die Genitalverstümmelung an intergeschlechtlichen Menschen geht über SOGI hinaus, und dasselbe gilt auch für andere gravierende Themen, zum Beispiel genetische Negativauslese, selektive Abtreibung, pränatale Behandlung, Sterilisation und alle möglichen Arten von Normalisierungsverfahren.
Mit diesem Katalog an Prinzipien zur Anwendung des Völkerrechts auf Menschenrechtsverletzungen bezüglich sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität wollten Sie – ich zitiere – „für mehr Klarheit und Einheitlichkeit in Bezug auf die Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten sorgen“. Wer war die primäre Zielgruppe dieser Prinzipien und warum?
Die Prinzipien sollen den Bestimmungen von UNO-Konventionen ähneln, daher zielen sie hauptsächlich auf die Verpflichtungen von Staaten ab. So wurde damals entschieden; heute wäre das wohl anders. Da die Prinzipien im Zusammenhang mit dem Versuch standen, in der UNO SOGI einzuführen, war es sinnvoll, dass die wichtigste Zielgruppe eben Staaten waren. Die Prinzipien haben aber auch eine zweite Zielgruppe, und zwar Menschen, die sich für diese Themen einsetzen. Die Prinzipien waren auch als Instrument zur Interessenvertretung gedacht.
Die Yogyakarta-Prinzipien umfassen 29 Prinzipien. Wie kam dieser Prinzipienkatalog zustande? Wie lang hat es gedauert, bis es Einigkeit über 29 Prinzipien gab? Ging es dabei kontrovers zu, oder lief alles glatt?
Ich erinnere mich nicht an Diskussionen über die Zahl der Prinzipien, aber es gab andere Diskussionen, zum Beispiel über das „Recht auf Leben“, das nicht das erste, sondern das vierte Prinzip ist. In dem Sinne handelt es sich um ein sehr formales Dokument, das konkreten Beispielen aus dem Rahmenkonzept der Menschenrechte folgt. Es gibt Prinzipien, die nicht aufgenommen wurden, und die Verteilung von Themen auf die verschiedenen Prinzipien wurde ausführlich diskutiert. Für mich war es eine sehr kontroverse Konferenz, da ich als Trans*- und Inter*-Person zu zwei extremen Minderheiten gehörte. An der Ausarbeitung der Prinzipien waren hauptsächlich Menschenrechtsexpert_innen involviert, die fast nichts über LSBTI-Themen wussten, und ich denke, dass die Prinzipien das widerspiegeln. Allerdings waren mehrere Organisationen an der Entwicklung der Prinzipien beteiligt: ARC International, Human Rights Watch, die Internationale Juristenkommission, International Service of Human Rights und Michael O’Flaherty, der den ersten Entwurf der Prinzipien erstellte.
Wie sind die Prinzipien von Regierungen, Gleichstellungsgremien, NGOs und anderen aufgenommen und angewandt worden – insbesondere in Ihrer Region des globalen Südens?
Meiner Meinung nach haben LSBT-freundliche Staaten die Prinzipien wohlwollend aufgenommen, aber das bedeutet nicht, dass sie dort genauso wohlwollend umgesetzt worden wären. Das sehr gute argentinische Gesetz über die Geschlechtsidentität zitiert die Yogyakarta-Prinzipien, und auf ihrer Basis wurde die Gesetzgebung zur gleichgeschlechtlichen Ehe in Argentinien und anderen Ländern vorangebracht. Außerdem hat das Instituto Nacional Contra la Discriminación (INADI) die Prinzipien aufgegriffen, und zwar in Grundsatzpapieren für Entscheidungsträger_innen zu Inter*-Themen.
Wenn Sie auf die zehn Jahre zurückblicken, die seit der Erarbeitung der Yogyakarta-Prinzipien vergangen sind, welche Auswirkungen haben sie global gesehen gehabt? Erinnern Sie sich daran, dass Sie sie in Ihrer Arbeit angewandt haben?
Ich habe sie sowohl im Trans*- als auch im Inter*-Aktivismus eingesetzt. Zum Beispiel Prinzip 18, das Recht auf Schutz vor medizinischer Misshandlung. Ich arbeite auch viel zu Entschädigung mit Prinzip 2, dem Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Ich verwende die Definition von Geschlechtsidentität und Prinzip 3, dem Recht auf Anerkennung vor dem Gesetz. Früher, vor etwa fünf Jahren, habe ich sie häufiger benutzt, aber heute gibt es besser formulierte Bestimmungen im System der Menschenrechte, zum Beispiel allgemeine Bemerkungen oder sogar Empfehlungen von Sonderberichterstatter/innen. Vor fünf Jahren waren die Prinzipien beispielsweise das einzige Dokument, das medizinischen Missbrauch thematisierte. Aber heute sprechen die Sonderberichterstatter über Folter und Gesundheit über Menschenrechtsverletzungen in der Medizin, und die Formulierungen sind progressiver. Also zitieren wir weiterhin die Prinzipien, nur eben in Kombination mit anderen Quellen.
Kritiker/innen der Yogyakarta-Prinzipien verweisen darauf, dass die Prinzipien zwar verbindliche internationale Rechtsnormen interpretieren, aber dass sie selbst nicht rechtsverbindlich sind und dass sich immer noch sehr wenige Staaten nach ihnen richten. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?
Ich würde die Prinzipien nicht deswegen kritisieren, weil Staaten sie nicht einhalten – ich würde die Staaten kritisieren. Die Prinzipien sind ein Dokument, das im Laufe der Zeit Soft Law geworden ist. Das bedeutet, dass verschiedene Staaten die Prinzipien zitieren, etwa Argentinien in seinem Gesetz zur Geschlechtsidentität oder der Oberste Gerichtshof Indiens in seinem Urteil zu Trans*-Identität, und dadurch erlangen sie normative Wirkung. Die Prinzipien sind jedoch keine Konvention oder Abkommen, auch wenn sie als Entwurf für eine zukünftige Konvention über SOGI-Themen fungieren könnten. Sie stellen den Stand der Reflexion und der Macht innerhalb der LSBT-Bewegung zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. Beispielsweise wäre es heute sehr schwierig, über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität nachzudenken, ohne die Ausdrucksformen von Geschlecht und die körperliche Vielfalt miteinzubeziehen. Heute ist es einfacher, sich differenzierter über die Prinzipien zu unterhalten. Es laufen bereits Prozesse zur Überarbeitung der Yogaykarta-Prinzipien bezüglich Trans* und Inter*.
Zum Beispiel?
Beim ARC International Dialogue in Istanbul in diesem Jahr äußerten Trans*- und Inter*-Aktivist/innen ihr Interesse daran, die Prinzipien zu überarbeiten und Lücken und Probleme mit den Bestimmungen zu thematisieren. Der einzige Verweis auf Inter*-Themen findet sich in Prinzip 18, Recht auf Schutz vor medizinischer Misshandlung, aber heute können wir die Äußerungen des Sonderberichterstatters über Folter aufgreifen, um Inter*-Themen aus der Perspektive der Folter zu thematisieren. In diesem Sinne hätte eine neue Fassung der Yogyakarta-Prinzipien genügend Hintergrund, um die Inter*-Thematik in die Prinzipien zum Thema Folter einzuführen. Aus diesem Grund denke ich, dass sie aktualisiert werden müssen.
Warum wird der Begriff „Inter*“ in den Yogyakarta-Prinzipien nicht ausdrücklich erwähnt?
Ganz allgemein werden schwul, lesbisch oder trans* dort nicht erwähnt. Deswegen inter* auch nicht. Es gibt keine Bestimmungen zu Identität, weil die Prinzipien universell sein sollen. Sie sollen über LSBT hinausgehen, weil diese Konzepte sehr eng mit Politiken und Definitionen des globalen Nordens verknüpft sind. Es war ein ernsthafter Versuch zu erreichen, dass die Prinzipien sogar dort funktionieren, wo diese Worte nicht existieren oder wo es politisch nicht möglich ist, sie auszusprechen. In diesem Sinne sind die Prinzipien strikt themenorientiert; sie erwähnen keine spezifische Personengruppe. Die Absicht war, die Prinzipien neutral und universal zu beschreiben. Es werden auch keine geschlechterbinäre Formulierungen verwendet.
Wie sehen Sie die Möglichkeit, dass die Prinzipien aktualisiert werden?
Das könnte schon passieren. Ich denke aber auch, dass die Inter*-Bewegung ihre eigenen Prinzipien benötigt. Denn wenn man dem Rahmenkonzept etwas hinzufügt, muss es insgesamt verändert werden. Ich analysiere die Art und Weise, in der die körperliche Vielfalt angeborener Geschlechtsmerkmale in den Prinzipien ausgedrückt werden, insbesondere wie sie im Hinblick auf Fragen der Geschlechtsidentität funktionieren; der Körper scheint meist der Geschlechtsidentität untergeordnet zu sein. Inter*-Aktivist/innen bestreiten jedoch, dass dem so sei, was zur Folge hätte, dass die Prinzipien insgesamt neu gefasst werden müssten. Das ist ein Grund, weswegen manche von uns die Notwendigkeit einer intergeschlechtlichen Fassung der Prinzipien diskutieren. Der andere Grund ist, dass nicht alle eine Verknüpfung von Intergeschlechtlichkeit und LSBT sehen. Die Inter*-Bewegung arbeitet mit den Yogyakarta-Prinzipien, aber auch mit der Behindertenrechtskonvention und dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Wir brauchen auch andere Bezüge und andere Rahmenkonzepte, nicht nur diejenigen, die sich auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität beziehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Von Caroline Ausserer (erschienen auf der Böll-Webseite im Mai 2016, LINK)
Lesetipp:
Report of the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment (Bericht des Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe), Juan E. Méndez, Februar 2013
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